Die vier „großen“ Begriffe der Gesellschaftspolitik wie Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit lassen sich nicht konkret bestimmen, sie haben utopischen Charakter und spiegeln die Sehnsüchte von Menschen wider – und ihren Mangel in der Realität. Dieser lässt sich in Bezug auf eine konkrete Situation feststellen: Auch wenn man nicht bestimmen kann, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen sollte, kann man etwa feststellen, dass es ungerecht ist, wenn ein Trader auf Finanzmärkten 100 mal so viel verdient wie eine Altenbetreuerin.
Als „Leitsterne“ sind die „großen“ Ziele der Gesellschaftspolitik unverzichtbar, die Annäherung an sie gelingt aber nur dann, wenn man ihren utopischen Charakter und das Spannungsverhältnis zwischen ihnen berücksichtigt, also nach einem „Ausbalancieren“ strebt. Dieses verlangt einen Prozess des Suchens und Probierens. Der Erfolg der reformistische Arbeiterbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist das beste Beispiel: Die vier „großen“ Ziele gaben die Richtung vor, die Annäherung erfolgte in kleinen Schritten und vielen Kompromissen.
Soziale Marktwirtschaft vs. Neoliberalismus
Auch die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft nach den Zweiten Weltkrieg bzw. des Europäischen Sozialmodells wurde von Bestreben getragen, Gegensätze zu integrieren wie jene zwischen Ökonomie und Politik, Markt und Staat, Konkurrenz und Kooperation, Unternehmer und Arbeitnehmer. Die gesellschaftspolitische „Navigationskarte“ wurde von einer Wirtschaftstheorie geprägt, dem Keynesianismus, welche die Polaritäten menschlicher Existenz berücksichtigte: Der Mensch wurde als individuellen und soziales, als eigennütziges und altruistisches, als rationalen und emotionales Wesen begriffen.
Die neoliberale „Gegenreformation“ setzte dem ein Menschenbild entgegen, das den Menschen als nur individuelles, nur eigennütziges und nur rationales Wesen begriff. Dementsprechend soll nur die Konkurrenz auf freien Märkten die ökonomischen Probleme lösen – kraft der Koordination durch eine „unsichtbare Hand des Markts“.
Diese Ideologie legitimierte die Ent-Fesselung der Finanzmärkte Anfang der 1970er Jahren und damit begann der lange Weg in die große Krise: Zwei Dollarabwertungen lösten zwei „Ölpreisschocks“ und zwei Rezessionen aus, die Inflation stieg stark an und wurde Anfang der 1980er Jahre durch eine Hochzinspolitik bekämpft – seither liegt der Zinssatz fast permanent über der Wachstumsrate. Also nahmen die Unternehmen ihre Realinvestitionen weiter zurück und „investierten“ statt dessen in Finanzkapital.
Falsche Rezepte
Auf den (unvermeidlichen) Anstieg von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung reagierte die Politik in der EU seit Anfang der 1990er Jahre mit Sparpolitik, Lockerung des Arbeitnehmerschutzes, Senkung des Arbeitslosengeldes und der Reallöhne. Also ging das Wirtschaftswachstum weiter zurück. Gleichzeitig orientierte sich das System zunehmend an der Losung „Lassen wir unser Geld arbeiten“: Nach dem Aktiencrash 2000 boomten zunächst Aktienkurse, Immobilienpreise und Rohstoffpreise gleichzeitig, auf die drei „Bullenmärkte“ folgten 2007/2008 drei „Bärenmärkte“ – die gleichzeitige Entwertung des Aktien-, Immobilien- und Rohstoffvermögens stellt die wichtigste systemische Ursache der Finanzkrise und des nachfolgenden Wirtschaftseinbruchs dar.
Innerhalb eines Denksystems kann man das Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen. Also suchten die Eliten nach anderen „Schuldigen“, in Europa wurde Griechenland in hohem Maß die Rolle eines „Sündenbocks“ zugewiesen. Die systemischen Ursachen von Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung, Armut, steigender Staatsverschuldung – das neoliberale Denksystem und die dadurch legitimierte „finanzkapitalistische Spielanordnung“ – wurden nicht begriffen.
Als die Spekulation der „Finanzalchemisten“ auf den Bankrott von Eurostaaten 2012 Spanien und Italien erfasste, war die Währungsunion in ihrer Existenz bedroht. Die Rettung kam von der EZB, welche (endlich) in Gestalt ihres Präsidenten Mario Draghi diesem Spiel ein Ende setzte. Dieses Eingreifen, die nachfolgende Nullzinspolitik und die Tatsache, dass Länder wie Spanien, Frankreich und Italien den Fiskalpakt ignorierten, eine (etwas) expansivere Politik betrieben und von der EU nicht sanktioniert wurden, ermöglichten ab 2016 endlich eine wirtschaftliche Erholung.
Vor der Wegkreuzung
Nachhaltig wird diese nicht sein. Denn der neuerliche Boom der Aktien- und Anleihekurse sowie in einigen Ländern auch der Immobilienpreise hat wieder ein enormes Absturzpotential aufgebaut. Seine „Aktivierung“ in Gestalt einer neuerlichen Vermögensentwertung und die damit verbundene Wirtschaftskrise werden Europa an eine „Wegkreuzung“ führen: Entweder, die Wirtschafts- und Sozialpolitik vollzieht einen radikalen Kurswechsel und emanzipiert sich von der „marktreligiösen“ Ideologie des Neoliberalismus, oder der Nationalismus und Rechtspopulismus werden immer stärker, was auch zur Auflösung der Währungsunion und sogar der EU führen könnte.
Nur auf Grundlage einer neuen „Navigationskarte“ könnte Europa den Weg zu neuer Prosperität finden. Dieser Weg entstünde „im Gehen“, also durch Umsetzung von Maßnahmen zur sozialen und ökologischen Erneuerung des europäischen Gesellschaftmodells.
So schafft die thermische Sanierung des gesamten Gebäudebestands in der EU Millionen Arbeitsplätze und senkt die Emission von Treibhausgasen markant. Die gleichen Effekte hat der Ausbau des Netzes für Hochgeschwindigkeitszüge. Der Flugverkehr zwischen den EU-Metropolen kommt zum Erliegen, von Berlin nach Paris fährt man mit der Bahn kaum mehr als 3 Stunden. Gleichzeitig rückt die (süd)osteuropäische Peripherie näher ans Zentrum, wenn man selbst aus Bukarest oder Sofia in wenigen Stunden per Bahn in Wien ist (dadurch werden auch „mentale“ Distanzen verringert).
Durch Vorgabe eines Preispfads für fossile Energieträger schafft die EU Sicherheit über die Profitabilität von Investitionen in die Energieeffizienz. Die Differenz zu den Weltmarktpreisen, insbesondere für Erdöl, wird durch eine flexible Steuer abgeschöpft, ihre Erträge wären enorm. Die verlässliche Verteuerung der Hauptverursacher des Klimawandels trägt zu dessen Eindämmung wesentlich bei. Preissignale sind wirkungsvoller als moralische Appelle.
Neues Europäisches Sozialmodell
Der Fließhandel an den Börsen in Mikrosekunden wird durch elektronische Auktionen ersetzt, zusätzlich wird eine Finanztransaktionssteuer eingeführt. Die Stabilisierung der Finanzmärkte verlagert die „kapitalistische Kernenergie“, das Profitstreben, von Finanzspekulation auf die „Turbinen der Realwirtschaft“, Unternehmertum bekommt wieder Vorrang vor der „Finanzalchemie“.
Das umweltverbessernde Wirtschaftswachstum ermöglicht bis Anfang der 2030er Jahre echte Vollbeschäftigung. Dazu trägt auch die Modernisierung und Erweiterung des Sozialstaats bei, der die Bedingungen für „gutes Leben“ zu gewährleisten hat, insbesondere auch durch Bereitstellung von erschwinglichem Wohnraum (im Gegensatz zum „residualen“ Sozialstaat der Neoliberalen als dem letzten „Auffangnetz“ für Deklassierte).
Die Erneuerung des Europäischen Sozialmodells würde langsam wieder Gefühle von „europäischer Identität“ nähren. Denn anders als im Einwanderungsland USA wurde die langfristige Entwicklung Europas vom Bemühen geprägt um einen Ausgleich zwischen „Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit“.
Eine detaillierte und konkrete Erklärung des Wegs Europas von der Prosperität der 1950er und 1960er Jahre in die gegenwärtige Krise, die Grundzüge einer neuen „Navigationskarte“ für die Sozial- und Wirtschaftspolitik und die wichtigsten Maßnahmen für eine Erneuerung des Europäischen Sozialmodells präsentiere ich in meinem Buch „Der Weg zur Prosperität“, das Ende Mai im Ecowin Verlag erschienen ist.
Dr. Stephan Schulmeister
Ökonom und Universitätslektor Wien
Bildnachweis: vwbf und Shutterstock.